Hjørdis
Triggerwarnung:
Im folgenden Text geht es um Tod, Sterben und Demenz.
Ich schrieb ihn nach meinem ersten Todesfall im Pflegeheim um die Geschehnisse zu verarbeiten.
Es ist der bisher persönlichste Text auf meinem Blog.
Der Name der Patientin wurde selbstverständlich geändert.
Hjørdis war dement.
Seit mehreren Tagen, Wochen, Monaten, Jahren. Die Demenz vergisst diese Tage, Wochen, Monate und Jahre und sie verschwinden in ihr. So wie Hjørdis verschwunden ist. Wegen mir? Durch mich? Schnell, ohne Leid? Steht es uns zu, Leid zu beurteilen? Leid ist urteilsfrei, ist universell, ist nur vermutbar und tut schrecklich weh, sobald es erlebbar wird. Was finden wir in Leid? Finden wir Mitleid, finden wir den Abgrund, finden wir vielleicht sogar manchmal Liebe in ihm? Ich finde zu oft Schuld darin. Doch ist diese Schuld real? Ich weiß es nicht, doch ich muss die Geschichte von Hjørdis erzählen, um die Schuld nicht zu meinem Leid werden zu lassen.
Hjørdis war dement.
Sie hatte vergessen wie das mit dem Schlucken funktioniert. Vorher hatte sie vergessen wie sie heißt. Wie ihre Kinder heißen. Wo sie wohnt. Jetzt wohnt das Vergessen in ihr und das heißt Alzheimer.
Vorher, da hatte sie vergessen wie das geht, dass mit dem aufs Klo gehen. Da hat ihre Blase vergessen, auszuhalten. Jetzt muss Hjørdis lernen das Vergessen auszuhalten und mit ihr alle, die sie lieben.
Vorher, da hatte sie vergessen wie das geht, dass mit dem Sprechen. Ihre Stimmbänder haben vergessen zu schwingen. Jetzt schwingt nichts mehr in ihr nach.
Vorher, da hatte sie vergessen wie das geht, dass mit dem Lächeln. Mit dem wachen Blick, mit den Tränen. Jetzt wandert ihr Blick ins Leere, was er sieht, Bilder aus vergangenen Tagen?
Leid ist auch im Vergessen, wenn man vergisst, zu leiden.
Hjørdis hat also vergessen wie das geht, dass mit dem Schlucken, das mit dem Essen. Trotzdem soll sie Tabletten nehmen. Denn die Menschen um sie herum haben nicht vergessen dass ihr Blutdruck zu hoch ist. Die Menschen um sie herum haben aber vergessen dass sie diese Tabletten besser nicht mehr nehmen sollte. Sie haben vergessen, mitzudenken. Was der Arzt anordnet, das ordnet er an. Auch wenn die Anordnung die Ordnung durcheinander bringt an einem Ort, an dem es keine Ordnung mehr gibt. Tabletten, in Marmelade gebröselt. Klein gemahlen und süß. Auch so kann Leid aussehen, klein gemahlen und süß.
Heute Morgen war Hjørdis ein bisschen wacher, ihre Augen ein bisschen offener, ihr Blick ein bisschen im Hier und Jetzt, nur ein klein wenig. Mit dem Seilzug für Menschen in den Rollstuhl. Weil sie so wach ist darf sie sitzen.
Im Zimmer noch schnell die Tabletten, die erste Dosis mit einem, zwei, drei Schluck Wasser, das zu dünn ist. Nachahmung, wenn ich den Mund öffne, macht sie es nach. Der erste Schluck rinnt wieder aus dem Mund heraus, zu flüssig für den Mund, der vergessen hat, wie das geht, dass mit dem Schließen.
Der offene Mund beweist, er ist leer.
Der zweite Schluck, in ihm die Tablette für den Blutdruck der vergessen hat zu sinken. Das Wasser rinnt nicht mehr heraus. Hat sie geschluckt? Ich weiß es nicht mehr. Sie bekommt gleich Frühstück, dass sie vergessen wird zu schmecken, in der Stube, in der sie vergessen wird zu sitzen.
Während dem Frühstück könne ich ja darauf achten, dass sie schluckt, was sie vielleicht noch im Mund hat der vielleicht schon leer ist.
Das Frühstückstablett hat das Frühstück vergessen, ich muss es erst zubereiten. Hjørdis steht in der Stube, mit ihr ein anderer Bewohner dessen Zunge die Deutlichkeit vergessen hat, in einer Sprache, die meine Zunge noch nicht sprechen will. Er ruft, wie vorhin, als er aus der Stube wollte. Ruft wie so oft, wenn er etwas will, dass ich nicht verstehe oder auch wenn er nichts will, einfach um zu rufen. Er ruft, doch ich vertröste ihn, ich bin beschäftigt. Opptatt. Nur zwei Minuten in denen ich vergesse, hinzuschauen.
Eine Minute später, das Frühstück ist fertig, höre ich ein Geräusch.
Ich versuche es zu rekapitulieren, immer und immer wieder, doch meine Ohren wollen es vergessen.
Es ist ein Gurgeln, ganz kurz nur, kein Husten denn die Reflexe wurden vergessen.
Waren dem Erinnern zu schnell. Ein Gurgeln, ein Röcheln, zwei Sekunden lang.
Ich springe in die Stube doch es ist zu spät. Den Tod erkennt man, wenn man ihm begegnet. Und er vergisst dich nie.
Ich vergesse nicht, zu rufen. Mich versteht man. Man kommt.
Keiner außer mir hat das Geräusch gehört. Keiner, außer der andere Bewohner, der das Geräusch schnell wieder vergisst. Der den Vorfall schnell wieder vergisst.
Hjørdis wird zurück ins Zimmer gefahren um weiter zu sterben. Meine Hände haben vergessen, still zu sein. Sie zittern. Mein Kopf hat vergessen zu denken, er gibt Anweisungen, mein Körper handelt nur noch.
Mein Herzschlag hat vergessen sich zu beruhigen, meine Atmung die Gleichmäßigkeit vergessen. Meine Beine ergreifen die Flucht für mich, raus auf die Veranda. Meine Augen vergessen, trocken zu sein. Die Zeit vergisst nicht, zu vergehen.
Ich helfe dabei Hjørdis zu waschen. Vergesse keine Stelle an ihrem Körper, kein Haar, keine Berührung. Alle sprechen mit mir darüber was passiert ist, ich werde nicht vergessen. Ich muss mein Vokabular erweitern, es ist nicht einfach, Schuld zu erklären, wenn man keine Worte dafür kennt.
Ersticken (kvelt), vergessen (å glemme), Schuld (skyld), Schlucken (å svelge).
Das habe ich heute gelernt. Unvergessen.
Alle sagen zu mir, mein Leid sei keine Schuld, mein Schuldgefühl nicht berechtigt. Ich solle es vergessen. Der Tod ist ein Freund von Hjørdis, er hilft ihr dabei, dass Leid zu vergessen. Er hilft ihr dabei, es nicht mehr empfinden zu müssen. Hilft, dass sie nicht verhungern muss, dass sie nicht künstlich ernährt werden muss, so lange, bis ihre Lunge vergisst zu Atmen. Vielleicht hat ihr hoher Blutdruck zu einem Gerinnsel im Gehirn geführt, vielleicht sind brodelnde Geräusche beim Sterben normal. Ich habe noch nie jemanden Sterben sehen. Ich weiß nur, dass ich meine Schuld vergessen muss, um kein Leid in ihr zu finden. Um weitermachen zu können als gute Krankenschwester, die sich traut, 5mg Morphin zu spritzen anstatt nur einem. Die sich traut, ihre Schuld hinten anzustellen für das Wohl der Patienten und Bewohner. Die manchmal dem Tod die Hintertüre aufhalten muss wenn das Leid die Vordertür eintritt. Die ihr Leid aushalten, einlassen muss. Doch es darf nur zum Teetrinken bleiben, danach muss es wieder gehen damit ich den Bewohnern, die am Leben sind, ein Lächeln schenken und Lebensfreude weitergeben kann. Und letztendlich ist da Gott, der mein Leid in die Arme nimmt und es in seiner Umarmung auflöst. Für mich. Nur für mich. Der neben mir steht und die Schuld, die keine ist, auf sich nimmt.
Eines darf ich nie vergessen: Liebe.


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