Hyttetur
„Die Liebe macht zum Goldpalast die Hütte, Streut auf die Wildnis Tanz und Spiel; Enthüllet uns der Gottheit leise Tritte, Gibt uns des Himmels Vorgefühl.“
Freitag, 01.10.2021
Am Wochenende sind wir zu unserer ersten Hyttetur aufgebrochen. Mit Angel im (viel zu schweren) Gepäck sind wir drei Kilometer zu einer einsamen Hütte auf einer Insel im Moor gewandert. Drei Kilometer klingen eigentlich nicht sonderlich anstrengend, kommen einem aber im Zwielicht bergauf durchs Moor sehr weit vor. Die Hütte ist am Schnellsten und komfortabelsten übers Wasser erreichbar da sie sich auf einer Halbinsel befindet . Zumindest in der Theorie. Es gibt zwar Land, dass die Hütte mit dem Bootsanleger verbindet, doch das wäre ein großer Umweg. Und für Umwege ist das Abendrot schon zu weit fortgeschritten.
Der direkte Weg führt uns also übers Wasser. Auf den Fotos im Internet ist ein grünes Kanu abgebildet. Als wir ankommen finden wir lediglich ein Boot aus Aluminium und zwei Ruder aus Holz.
Die Dämmerung hat uns mittlerweile eingeholt und es ist fast dunkel.
Die Etappe übers Wasser sieht vom Ufer aus betrachtet aus, aus, als würde sie viel Zeit in Anspruch nehmen. Man kann das Ziel von hier aus nicht sehen denn kleine Inseln, die überall im Wasser aufragen, versperren uns die Sicht darauf.
So wie die Dämmerung uns eingeholt hat, holt mich die Angst nun ein und löst die Erschöpfung ab. So eine Bootsfahrt sah, in meiner Fantasie betrachtet, bisher eigentlich ganz schön aus. Ich habe mir ausgemalt, idyllisch und ohne Anstrengung in den Sonnenuntergang zu rudern. Dass die Sonne inzwischen weg ist, das Wasser eine Strömung hat und der Wind unerbittlich bläst, war kein Inhalt meiner Tagträume. Das Wasser habe ich bisher immer als meinen Freund und mein Element betrachtet. Ich liebe es, auf die Weite der See zu schauen, zu sehen, für welche Tiere es einen Lebensraum darstellt. Wie die Möwen über es hinweg kreisen und die Fischschwärme es bewandern. Doch Wasser ist auch Gefahr. Es ist tief, geheimnisvoll, kalt und kann tödlich sein. Nie wurde mir dies mehr bewusst als jetzt, vor ihm stehend, mich ihm anvertrauen müssend. Ich muss darauf vertrauen, dass zwei Ruder aus Holz, ein Boot aus Aluminium und eine Rettungsweste mich davor bewahren, in ihm zu ertrinken.
Wir haben keine Wahl, die Sonne steht zu tief um über Land zu gehen.
Wir beladen also das Boot und lassen es zu Wasser.
Schon in der Bucht sehe ich die Überforderung in Marcels Augen als er feststellt, dass auch er falschen Fantasiegebilden erlegen ist und er das Boot nicht unter seiner Kontrolle hat, das Wasser unter ihm zu stark ist.
Er ist noch nie gerudert und rührt mit den Paddeln im See herum wie in einer faden Suppe.
Glücklicherweise habe ich schon ein wenig Erfahrung im Paddeln, da ich im Sommer des Öfteren stand up paddeln war und auf einem schmalen Brett mit nur einem Paddel im Meer stehend kam ich mir dabei weniger bedroht vor als in unserer momentanen Situation. Ich merke allerdings schnell, dass es einen Unterschied macht, zwei, anstatt einem Ruder zu haben und außerdem zu sitzen und überlasse Marcel wieder die Ruder. Zum Glück treibt die Strömung uns in die gewünschte Richtung und der Wind hilft dabei, das Boot in die richtige Richtung zu manövrieren indem er es von hinten anstupst. Nach ein paar Übungsschlägen und dem Anflug einer Panikattacke meinerseits klappt es dann einigermaßen gut und wir kommen sicher ans andere Ufer. Endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben fühlt sich gut an. In Gedanken bin ich das ganze Wochenende über mit der Rückfahrt beschäftigt. Gegen den Strom, mit Wind im Gesicht. Vielleicht üben wir das mit dem Rudern am Samstag besser vorher nochmal. Ohne Gepäck und ohne Stress.
Bevor wir unser Gepäck auspacken begeben wir auf die Suche nach der Toilette. Laut Beschreibung soll es ein Plumpsklo geben doch im Schuppen neben der Hütte finden wir nur Holz. Wir kreisen eine Weile im Regen um die Hütte herum, die Nacht nur erhellt vom Handylicht, der Mond versteckt sich hinter Wolken. Nach ungefähr 15 Minuten des Umherirrens finde ich das Toilettenhäuschen ca. 300 Meter von der Hütte entfernt. Zu weit, um nachts und im Regen eben mal kurz auf die Toilette zu gehen. Wir finden uns jedoch schnell mit diesem Schicksal ab. Die Hütte hat weder einen Strom-, noch einen Wasseranschluss und wir müssen Wasser aus dem See schöpfen. Nachdem das Feuer im Ofen brennt und Marcel den Kampf mit der Petroleumlampe gewonnen hat, gehen wir nach einem improvisierten Abendessen zu Bett.
Die erste Nacht in der Hütte wird unruhig werden, da der Wind an den Rollläden klappert und die (vielen!) Fliegen, die sich in den Ritzen des Holzes verstecken und bei Wärme herauskommen, zu laut sind. Wir können die erschlagenen Fliegen gar nicht mehr zählen und auf eine tote Fliege folgen sofort drei lebendige.
Die Hütte steht auf dieser Halbinsel. Wir kamen aus Richtung des Google Symbols am unteren Rand der Karte und mussten uns über den See zur Markierung rudern.
Samstag, 02.10.2021
Der nächste Morgen begrüßt uns grau, windig und, entgegen der Vorhersagen, auch regnerisch. Da wir hier keinen Handy – oder Internetempfang haben müssen wir uns heute mit uns selbst beschäftigen. Zum Glück haben wir ja für heute eine Aufgabe: Rudern üben. Doch zuerst machen wir Frühstück. Es gibt Porridge, das wir auf dem Gasherd warm machen. Nach dem Frühstück beruhigt sich das Wetter etwas und wir stechen erneut in See.
Der Tag macht das Rudern weniger bedrohlich und man hat Zeit, seinen eigenen Rhythmus zu finden. Es ist ganz still, wir hören nur das Ruder, das im Wasser bricht. Das Rudern ist ziemlich anstrengend und wir pausieren, um unsere Umgebung auf dem Landweg zu erkunden. Vorher finden wir jedoch im Schrank eine Lösung für unser Fliegenproblem. Eine Räucherspirale. Wir zünden diese an, öffnen Fenster und Türen, wie es in der Anleitung steht, und brechen auf. Viel Moor, viel Ruhe und viele bunte Herbstfarben. Wir finden eine Bergquelle und füllen unsere Wasserflaschen auf. Da das Wetter heute keinen Spaß macht und es um uns herum keine angelegten Wanderwege gibt drehen wir zeitig um. Als wir in die Hütte zurückkehren feiern die Fliegen gerade eine Party in unserer Hütte. Ganze Großfamilien wurden durch den Rauch aus den Ritzen im Holz gelockt. Nun wissen wir auch, wieso die Fenster geöffnet werden sollten. Nicht, wie vermutet, um den Rauch abziehen zu lassen sondern um einen Fluchtweg für die Fliegen zu schaffen. Das funktioniert ganz gut und bald sind wir fast fliegenfrei. Marcel beschließt nun, seine Angel auszuprobieren und ich schreibe ein paar Zeilen. Die Fische sind zu erschöpft um anzubeißen und mein Akku tut es ihnen schnell gleich.
Rudern Lektion zwei beginnt. Dieses Mal angelt Marcel von der Mitte des Sees aus. Einmal um den See herum zu rudern traue ich mich noch nicht. Wir sind unsicher, ob wir das mit dem Rudern richtig machen. Ich drücke die Ruder nach vorne, Marcel zieht sie zu sich. Aber mit beiden Methoden kommen wir zum Ziel und wir wechseln uns ab, um Kraft zu sparen. Das Steuern nach rechts und links und das Wenden des Bootes fallen uns am Schwersten aber alles in allem klappt das mit dem Rudern schon sehr gut und beginnt, uns Spaß zu machen. Mitten auf dem See zu schweben, umgeben von Ruhe. Am Ende bekomme ich dann doch noch meine Fahrt in den Sonnenuntergang hinein. Nur einen Fisch fingen wir auch heute nicht.
Gegen 17 Uhr kehren wir in die Hütte zurück. Zuerst sorgen wir für Licht und Wärme mithilfe des Holzofens, den Kerzen und der reparierten Petroleumlampe. Es ist schwierig, die richtige Raumtemperatur auszutarieren so dass es zum Schlafen nicht zu kalt, aber auch nicht zu warm ist.
inatur.no
Sonntag, 03.10.2021
Die erste fliegenfreie Nacht geht zu Ende. Das Wetter wird schlechter, statt besser und sowohl Wind als auch Regen nehmen an Intensität zu. Glücklicherweise finden wir genug Internetempfang um die Wetterapp zu aktualisieren. Diese zeigt uns, dass Wind und Regen gegen 13 Uhr schwächer werden, was die Zeit unseres Aufbruchs festlegt. Wir frühstücken, spülen das Geschirr, ziehen das Bett ab, putzen die Hütte und versetzen sie in den Ursprungszustand zurück. Dann brechen wir auf zu unserer vorerst letzten Tour mit dem Ruderboot. Dieses Mal sind wir schnell und angstfrei am anderen Ufer und genießen diese letzte Fahrt trotz Wolkenberge und Wind.
Pünktlich zum einsetzenden Regen sind wir wieder am Parkplatz und glücklich darüber, eine halbe Stunde später in unserem warmen, im Vergleich zur Hütte luxuriösen, Zuhause anzukommen. Sobald man wieder zu Hause ist wird einem bewusst, wie verwöhnt man eigentlich ist. Kein Strom, kein Wasser, keine Toilette, kein Internet zu haben, nicht einmal duschen zu können, ist für ein Wochenende vollkommen in Ordnung. Doch für mehrere Wochen, Monate oder Jahre können wir uns diese Situation gar nicht mehr vorstellen. Doch vielen Menschen auf der Welt geht es heute noch so aufgrund der drohenden Gefahren des Klimawandels könnte die Vergangenheit auch zum möglichen Zukunftsszenario werden. Es ist erschreckend und faszinierend zugleich sich bewusst zu werden, dass die Zeit, in der die Menschen auch in den heutigen Industrieländern auf diese Weise gelebt haben kaum 100 Jahre zurückliegt. Für heutige Generationen ist dieses Leben so weit entfernt. Sie wachsen in einer technifizierten Zeit auf, in der nichts mehr undenkbar scheint und die nur eine Richtung kennt: höher, schneller, weiter, mehr. Entfernt von einem Leben in der Natur, ihr so entlegen wie noch nie. Es ist schön, nun in einem Land zu wohnen, bei dem man Haus an Haus mit der Natur lebt, ihren schönen und weniger schönen Seiten, und in dem die Rehe im Vorgarten stehen und die Elche gemütlich die Straße überqueren, so als ob wir nicht existierten. In dem viele seiner Einwohner Hütten ohne Strom und Wasser dem Luxushotel vorziehen. In dem man aber auch in ein Leben voller Luxus zurückkehren kann, was vielen Menschen auf dieser Welt verwehrt ist. Sie kennen nur dieses andere, einfache, Leben und schauen voller Neid auf unser Leben mit Strom und Wasser, das wir uns geschaffen haben in dem Wissen, dass unser Fortschritt nur dadurch möglich ist, dass andere Menschen dafür leiden und wir ihren Fortschritt einschränken. Die wir alle in der Zeit der Vorindustrialisierung gefangen halten, ohne Möglichkeit zur Entwicklung, da wir ihnen diese nehmen um unseren Luxus aufrechterhalten zu können. Die wir dann ausgrenzen, wenn sie versuchen, zu uns zu kommen. Flüchten müssen vor ihrer Lebenssituation, die nicht mehr aushaltbar ist und für die wir mitschuldig sind. Auch Armut und Perspektivlosigkeit sind Gründe zur Flucht und sind Krieg, der ohne Waffen ausgefochten wird, der aber genauso tödlich ist.
So, genug Gesellschaftskritik für heute. Ich freue mich schon auf unseren nächsten Ausflug in eine Hütte und auf die Rückbesinnung auf mich selbst.
- Janine Isabel
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- Oktober 2021


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