Julebord
Weihnachtsfeier auf Norwegisch
Ich habe nichts zum Anziehen. Das erste Mal, dass dieser Satz wohl tatsächlich der Wahrheit entspricht denn alles, was ein bisschen weniger casual und ein bisschen mehr schick ist habe ich in Deutschland gelassen. Brauchen werde ich es sowieso nicht, dachte ich, und außer meinem Hochzeitskleid habe ich keine weiteren feinen Kleider im Gepäck. Tja, falsch gedacht denn in Norwegen gehören Anzug und Abendkleid auf Weihnachtsfeiern zum must have. Also habe ich die Chance genutzt, mich, mit Mama als Stilberaterin, in Trondheim für die Feier auszustatten.
An einem Samstagabend soll die Feier stattfinden. Aus der Einladung kann man die Größe des Festes nicht herauslesen, sieht sie doch aus wie ein von Schülern in der Mittelstufe erstellter Flyer. Mittlerweile gibt es aber Gerüchte die besagen, dass die Feier wohl groß werden wird. Sehr groß.
Ich stehe also am 13.November vor dem Spiegel und kämpfe seit Langem wieder einmal mit Mascara und Lippenstift. Nachdem mein Make up fertig ist, fahren wir noch auf einen Kaffee bei Marcels Arbeitskollegin vorbei. Wenn ich Kaffee sage, meine ich in diesem Fall auch tatsächlich welchen. Es ist wohl gar nicht so unüblich dass man manche Kaffeekränze in Norwegen mit einem Alkoholrausch verlässt. Nämlich dann, wenn man anstelle von Kaffee Karsk serviert bekommt. Es ist nur noch wenig Kaffee in diesem Kaffee enthalten, zum größten Teil besteht er aus starkem, selbstgebranntem 93%igem Alkohol. Der Geschmack ist zweitrangig, Hauptsache man kann danach nicht mehr gerade stehen. Nach dem Kaffeetrinken geht es also los.
Kein Vorspiel für uns.
Marcel wurde von seinem Vormann zwar zum Vorspiel eingeladen, leider (oder zum Glück?) ist dieser aber heute krank. Wer jetzt an etwas Sexuelles denkt ,sollte diese Gedanken schnell wieder verwerfen, denn das Vorspiel ist nichts anderes als das Vorglühen in Deutschland. Es wird sich getroffen um zu trinken und den Alkoholpegel schon vor Beginn der Feier auf ein Niveau zu bringen, das ausreicht, um auf der Feier von möglichst wenigen gekauften alkoholischen Getränken aufrecht erhalten werden zu können. Denn die sind teuer.
Als wir an der Halle ankommen, die wirklich sehr groß ist, finden wir glücklicherweise direkt davor einen Parkplatz. Die Straßen sind jetzt schon sehr glatt und es ist gerade einmal 19 Uhr.
Es gibt eine lange Garderobe und anstelle von Impfpässen werden Handtaschen am Eingang kontrolliert. Wahrscheinlich, um zu verhindern, dass Alkohol mitgebracht wird. Die Sitzordnung, die am Eingang auf einem Plasmabildschirm zu lesen ist, lässt auf eine sehr große Anzahl von Gästen schließen. Auf dem Plan sind die einzelnen Firmen den verschiedenen Firmen Tischnummern zugeteilt. Insgesamt 18 Firmen, verteilt auf ungefähr 90 Tische, sollen am Event teilnehmen.
Gespannt betreten wir die Halle und sind erstmal sprachlos.
So viele Menschen sitzen an den 90 runden Tischen, im Hintergrund steht eine großen Bühne. Rechts und links der Bühne sind riesige Plasmabildschirme aufgebaut, die Halle ist beleuchtet wie bei einem Rockkonzert. Auf den Tischen stehen Getränke jeder Art, alkoholisch und nicht – alkoholisch zugleich. Jede Firma durfte hier wohl selbst über ihr Budget bestimmen und nicht auf jedem Firmentisch steht dasselbe, auch die Anzahl der Flaschen weicht sehr voneinander ab.
Zum Abendprogramm gehört ein Magier, der uns bereits auf dem Einladungsschreiben angekündigt wurde. Ich ging jedoch von einem kleinen Straßenmagier aus, der sich durch die Tische eines kleinen Restaurants zaubern wird.
Das Spektakel beginnt mit Livemusik und einem Entertainer á la Olivia Jones und wir suchen unsere Plätze auf. Da wir zu viert sind (Marcels Kollegin, ihr Sohn, Marcel und ich) und gerne zusammen sitzen wollen, passen wir nicht mehr an einen der Tische der anderen Kollegen von Marcel. Leider bleiben wir den ganzen Abend an unserem Tisch alleine, da viele Kollegen krankheitsbedingt ausfallen. Pünktlich um 20 Uhr kommt die Vorspeise. Lachs auf Salat.
Alkoholpegel im Raum: lallende Lustigkeit.
Geschmack: eine winzige, schmackhafte Portion.
Programmpunkt: ein Gesangsquartett, das Rock und Popklassiker in viel zu lauter Lautstärke zum Besten gibt.

die Lachskomposition
Nach der Vorspeise tritt der Zauberer das erste Mal auf und macht seine Sache tatsächlich verblüffend gut. Schade nur, dass er nicht dazu in der Lage ist, die Lautsprecher ein wenig leiser zu zaubern.
Der anschließende Hauptgang besteht aus Ribbe (mit Schwarte gegarte Schweinerippe) mit Kartoffel (hier bewusst in der Einzahl), Rotkraut, Wurst, einem julekake (eine Art Fischfrikadelle) und brauner Soße. Das entspricht dem typischen Juleteller in Norwege und gehört auf jeden Tisch an Heiligabend. Eine norwegische Weihnachtstradition also.
Alkoholpegel im Raum: Es wird schwierig, den Mund mit dem Besteck zu treffen. Wie verwendet man das nochmal richtig?
Geschmack: was sucht der fiskekake in der Komposition?
Zu den norwegischen Weihnachtstraditionen gehört anscheinend auch der völlige Totalabschuss zur Weihnachtsfeier.
Programmpunkt: Der Magier verschenkt Alkohol ans Publikum.
Mittlerweile wird die Musik immer ausgelassener und zwei Akrobaten beeindrucken uns auf der Bühne mit ihren Kunststücken. Für viele der im Raum anwesenden ist es schon zum Kunststück geworden, geradeaus zu gehen. Während die Gymnasten auf der Bühne einander zuwirbeln und aufeinander Saltos schlagen ist der Promillespiegel im Raum vom Zauberer scheinbar unbemerkt verdoppelt worden. Wir beobachten Marcels Kollegen dabei, wie er damit beginnt, im Sitzen zu tanzen und dabei aussieht wie ein Huhn, das wegzufliegen versucht. Ein anderer von Marcels Kollegen kommt mit sechs Aquavit in der Hand von der Bar zurück und dreht sich orientierungslos im Kreis. Wir haben das Glück, dass er die leeren Plätze neben uns entdeckt, und uns zum Trinken einlädt. Weder wissen wir, wer er ist, noch verstehen wir viel von dem was er uns, mit alkoholgetränktem Atem, lallend entgegenhaucht. Nach den Aquavit kommt glücklicherweise schnell das Dessert und zwingt ihn dazu, zu seinem Platz zurück zu wanken. Das Dessert besteht aus einer Schüssel Milchreis mit roter Grütze.
Alkoholpegel im Raum: Die Orientierung hat die Feier vorzeitig verlassen und hat die Artikulation mitgenommen
Geschmack: können wir bitte noch die Portionen derer bekommen, die nicht mehr wissen, wie das mit dem Essen funktioniert? Der Milchreis ist nämlich sehr lecker.
Programmpunkt: Trotz des hohen Alkoholpegels wird versucht, noch Interesse an den, über den Köpfen turnenden Akrobaten, zu zeigen. Vielen wird allerdings schon beim Zuschauen schlecht.
Nach dem Nachtisch bekommen wir erneut Besuch an unserem Tisch. Zwei Arbeitskollegen von Marcel setzen sich zu uns. Einer versucht, sich Wein einzuschenken. Es fließt allerdings nichts von der Flasche ins Glas. Das kann es auch gar nicht, denn der Deckel ist noch auf der Flasche. Zwei Anläufe später macht ihn jemand auf diese Relation aufmerksam und der Deckel wird abgeschraubt, um den Wein dann anschließend auf die Tischdecke gießen zu können.
Der seit 13 Jahren in Norwegen lebende und noch kein Wort norwegisch sprechende Litauer aus Marcels Betrieb hat mittlerweile damit begonnen, wie Rumpelstilzchen um sein Feuer um unsere Tische herum zu tanzen. Jemand hilft ihm dabei, seinen Pullover über sein Hemd zu ziehen. Die ersten Versuche sind gescheitert. Auf der Hälfte der Strecke, mit einem Arm im und dem Pullover über dem Kopf, hatte der Litauer den Kampf aufgegeben. Der Schwede, der vorhin Probleme beim Essen hatte und dessen Flugversuche gescheitert sind, hat nun zusätzlich Probleme beim Stehen und wird von seiner nüchternen Frau gestützt. Geradeaus läuft mittlerweile keiner mehr und der Slalomlauf durch die Tischreihen ist amüsant zu beobachten. Meistens wird hierbei ein alkoholisches Getränk in der einen Hand balanciert währenddessen mit der anderen Hand versucht wird, eventuelle Hindernisse zu ertasten und die Balance zu halten. Die Schlange vor der Bar ist scheinbar endlos und dem Bühnenprogramm folgt mittlerweile niemand mehr. Der Zauberer hat sich gemeinsam mit zivilisiertem Verhalten und Gleichgewichtssinn in Luft aufgelöst. Wir sind wieder beim Urmenschen angekommen. Alkoholpegel im Raum: kurz vor Leberschaden. Wir gehen jetzt. Nach uns beginnen die Menschen ausgelassen zu tanzen.


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