dazwischen

Ti på topp

Es ist nicht der Berg, den wir bezwingen - wir bezwingen uns selbst

Edmund Hillary

Heute fahre ich zu Lea nach Steinkjer. Sogar ganz komfortabel denn ich darf den Audi von Marcel ausborgen. Nicht nur der Komfortabilität wegen sondern auch weil ich mir verspreche, in ihm ohne Fahrzeugschäden ans Ziel zu kommen. Mein Nissan meint nämlich Bremsflüssigkeit verlieren zu müssen. Nach ca zwei Stunden Fahrt stelle ich fest, dass dieser Plan nicht aufgeht denn die Batterieanzeige beginnt zu leuchten, die Batterie verliert an Spannung. An dieser mangelt es mir nicht. Ich bin gespannt, ob ich heute noch ankomme. Glücklicherweise meldet mir mein Navi, dass ich in zehn Minuten am Ziel bin. Marcel wagt eine Ferndiagnose: die Lichtmaschine. Ich soll die Batterie bei Lea aufladen. 

Lea hat Besuch von Oscar, der uns auf der Wanderung begleiten wird. Oscar ist braun, hat vier Beine und Fell. Ein wunderschöner, jedoch sehr pubertär – verspielter Hovawart mit beinahe unerschöpflicher Energie. Wir gehen heute gemeinsam wandern. Wir wandern zu einem von zehn Zielen der App “ti på topp steinkjer”. Jeden Sommer gibt es, regional ausgewählt, zehn Wanderziele in dieser App, zehn Gipfel, die es zu erreichen gibt. Das soll dazu motivieren, in die Natur zu gehen. Man kann seine Touren und gewanderten Kilometer in der App eintragen um auf Platz eins der Bestenliste zu kommen. Man kann einen Berggipfel erst dann einloggen, wenn man tatsächlich hinaufgewandert ist, das GPS muss auf dem Gipfel aktiviert werden um den Berg als gewandert zu markieren. Viele Regionen und Städte Norwegens haben ihre eigene Ti på topp Seite nzw App. Ausgenommen unsere natürlich, hier in unserer direkten Umgebung gibt es diese Möglichkeit leider nicht. 

Lea hat viel Wandererfahrung und das ist auch gut so, denn für ihr Vorhaben nächstes Jahr wird sie diese brauchen. Gemeinsam mit Oscar wird sie im Sommer 2022 für 8 Wochen aus dem Süden Norwegens nach Hause wandern. Nach Hause bedeutet ca 1200 km gen Norden. 1200 km mit schwerem Gepäck, Hund und Zelt übers Fjell. Ich freue mich sehr für sie, dass sie dieses Abenteuer erleben darf und bewundere ihren Mut. Ich hätte diesen wahrscheinlich nicht aufgebracht. Schon der, im Gegensatz dazu bequeme, gut ausgebaute Jakobsweg hat mir viel Angst gemacht und der ist mit diesem Vorhaben nicht annähernd vergleichbar. Obwohl sie mir einige gewanderte Kilometer voraus ist passt sie sich gut meinem Tempo an und ich habe nie das Gefühl, hinter ihr her rennen zu müssen, zurück zu fallen oder ihr zu langsam zu sein wie das bei Marcel leider oft der Fall ist. Ich komme also tatsächlich auf dem Berggipfel an, ohne signalrot angelaufen zu sein und ohne Kurzatmigkeit. Atmen ist trotzdem schwierig denn es ist unglaublich windig. Sich zu unterhalten ist kaum möglich, der Wind trägt die Worte weit weg. Oscar stellt sich dem Sturm und blickt stolz auf die Welt unter ihm hinab. Lange hält es uns hier oben nicht, der Wind drängt sich in die Lunge und man kann ihn durch die Kleidungsschichten hindurch auf der Haut spüren. Man spürt etwas, das man nicht sehen kann. Da ist es trotzdem. An den arktischen Wind muss man nicht glauben um in ihm zu frieren.
Mit jedem Schritt mehr werden meine Socken feuchter. Ich muss mir endlich wasserfeste Wanderschuhe kaufen. Wieder unten angekommen sind meine Socken durchnässt, meine Nase läuft, doch ich bin glücklich.

Auf dem Rückweg fahren wir noch bei Leas Pferd vorbei um es zu füttern und den Stall auszumisten. Wir unterhalten uns über die Norweger und Lea erzählt mir von ihren Erfahrungen. Norwegen sei ein Dorf, in dem jeder jeden kennt und ohne Kontakte sei es schwer an Jobs oder Wohnungen zu kommen. Wir sollten uns ein Netzwerk aufbauen und mehr auf die Norweger zugehen. Einfach mal fragen, ob jemand gemeinsam mit mir auf Tour gehen will oder außerhalb der Arbeit etwas mit mir unternehmen möchte. Doch das fällt mir schwer. Die Sprachbarriere und meine Unsicherheit scheinen oft unüberwindbar. Das Ganze gibt mir auf der Heimfahrt sehr zu denken doch die Batterie lenkt mich von meiner Trübsinnigkeit ab. Die Kilometer schreiten voran, die Batteriespannung verabschiedet sich stetig. Eine Stunde Batterie aufladen war wohl nicht genug.
Radio hören kann ich aufgrund des Strommangels nicht mehr und so bin ich mit meinen Gedanken alleine. Ich muss aufpassen, dass meine Zweifel sich nicht zu den Bergen um mich herum verfestigen sondern dass sie mehr werden wie das Meer. In Bewegung bleiben, von Gezeiten gesteuert, auf und abflauen. Werden wie Ebbe und Flut anstatt zu Stein zu erstarren und mich unbeweglich werden zu lassen. Mein Geist, meine Seele, meine Hoffnung, mein Glaube. Alles muss beweglich bleiben.
Beweglich bleibt auch der Spannungsanzeiger und nach und nach gehen die Warnlichter an. Zuerst sind die Scheinwerfer dran. Kein Licht mehr, dass mir meinen Weg zeigen kann. Dann kommt der Airbag, der mich im Falle eines Aufpralls nun nicht mehr schützt. Nach ihm setzt das ESP aus, das mich in der Spur hält, wenn ich ins Schleudern gerate. Die Nebelscheinwerfer, die mich vor dem Verirren retten, sind nun auch tot.
Anschließend nimmt mir die ausfallende Heizung die Wärme, das ausfallende Radio die Verbindung nach außen. 12 Volt. Von dieser Spannung hängt mein Weiterkommen ab. Je mehr Spannung die Batterie verliert, desto mehr Systeme beginnen zu versagen. Das Steuergerät steuert einen in den Abgrund, der Motor verliert an Kraft und irgendwann strandet man am Fahrbahnrand. Kein Weiterkommen mehr. Stillstand.
Dann muss man dafür sorgen, dass die Batterie wieder geladen wird oder diese austauschen. Ich nutze den Stillstand an einem ruhigen See dazu, zu lesen. Decke mich mit der Jacke. die auf dem Rücksitz liegt, zu. Die Abende bringen die Kälte mit sich und die Sonne verschwindet schon wieder hinterm Horizont. Marcel ist auf dem Weg. Eine Stunde und 20 Minuten trennen mich noch von zu Hause. Nach seiner Ankunft tauscht er die Batterien aus und ich fahre mit meinem Auto weiter. So lange, bis seine Lichtmaschine wieder die Warnlampen aufleuchten lässt. Eine Lichtmaschine, die Dunkelheit hervorruft wenn sie kaputt geht. Zehn Minuten vor dem Ziel müssen wir ein letztes Mal die Batterie austauschen. Mittlerweile ist die Nacht hereingebrochen doch wir kommen heil nach Hause. 

Litlklumpen

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