Bereit? Teil 2: Warum Norwegen?
Januar 2020
Im Januar 2020 begann ich damit, meine Fühler vorsichtig Richtung Norwegen auszustrecken und mir in Auswandergruppen auf Facebook Informationen einzuholen. Hierbei lernte ich K. kennen. Sie ist ebenfalls Krankenschwester, genau wie ich und hat mir einen Einblick in den norwegischen Krankenpflegealltag eines Pflegeheims gegeben. Mit jedem Gespräch wächst unser Entschluss, nach Norwegen auszuwandern doch mit jedem Gespräch wachsen auch unsere Zweifel. Ich hatte vor, einen anderen Beruf zu ergreifen und wollte nächstes Jahr eigentlich damit beginnen zu studieren. Doch als Berufsanfänger ohne jede Berufserfahrung in ein neues Land auswandern? Zumal mein gewünschter Studienberuf – irgendwas Kreatives im Verlagswesen oder Diakoniewissenschaft – in Norwegen aufgrund mangelnder norwegischer Sprachkenntnisse schwer zu verwirklichen gewesen wäre.
Es standen drei Möglichkeiten für uns zur Auswahl.
Möglichkeit eins: studieren, darauf hoffen irgendwann unser Haus in Spiegelberg kaufen zu dürfen und uns aufgrund der viel zu hohen Immobilienpreise wahrscheinlich hoch zu verschulden.
Möglichkeit zwei: einen Bau – oder Zirkuswagen/ein Tiny house kaufen, uns selbst versorgen und unsere Arbeitszeit reduzieren
Möglichkeit drei: Auswandern. In der Hoffnung, eine Mischung aus beiden Möglichkeiten in Norwegen realisieren zu können.
Wir schreiben also eine Liste mit allen Vor – und Nachteilen der jeweiligen Optionen, lassen die Liste auf uns wirken und diskutieren das Thema mit Familie und Freunden, die das Ganz bisher noch nicht so ernst nehmen.
März 2020
Da ich mir 2019 das Handgelenk gebrochen und 2018 einen Muskelfaserriss im Oberschenkel zugezogen habe ist, zur Überraschung meines Orthopäden, eine Reha – Maßnahme für mich bewilligt worden. Diese beginnt Ende Februar und endet drei Wochen vor meinem ersten Schritt auf dem Jakobsweg. Da Schritte noch Schmerzen bereiten setze ich viel Hoffnung in die Reha. Dort höre ich auch zum ersten Mal das Wort Covid19, halte es aber nur für einen schnelllebigen “Mode Virus”, ähnlich der Schweinegrippe. In der ersten Woche der Kur frage ich Unterkünfte für die Jakobsweg Etappen in Deutschland an. Alles akribisch geplant, dokumentiert und bezahlt. Auch Bücher gefüllt mit Poesie über den Jakobsweg habe ich im Rehagepäck.
Meine therapiefreien Stunden verbringe ich damit, mich meinem Jakobsweg Tagebuch zu widmen. Die Seiten zu verzieren, motivierende oder tiefsinnige kleine Sprüche auf Zwischenseiten zu dichten und mir meinen Weg auszumalen. In den buntesten Farben und schönsten Worten. In der wöchentlichen Therapiesitzung, ein Teil des Reha – Programms, fragt mich meine Therapeutin welche Auswirkungen es denn auf mich hätte, den Jakobsweg aufgrund der epidemischen Lage nicht gehen zu können. Ich beginne fast zu weinen und realisiere langsam den Ernst der Lage. Im Treppenhaus auf dem Weg zu meinem Zimmer habe ich einen dicken Kloß im Hals. Ein Teil meiner Freizeitgestaltung ist das Spazieren laufen. Ich habe meinen bereits gepackten, mit Ausrüstung gefüllten und mit Jakobsmuschel geschmückten Rucksack im Auto, um mich an das Gewicht gewöhnen zu können. Meine Jakobsmuschel trägt Worte im Inneren, die mir auf dem Jakobsweg begegnen und mir eine Stütze sein sollen. Selbstbewusstsein, Liebe, Kampfgeist, Durchhaltevermögen, Geduld und Sehnsucht sind nur einige wenige davon. Der Rucksack bleibt dort wo er ist. Mein Bein tut noch zu sehr weh, um ihn schultern zu können und mein Herz bringt es nicht über sich, ihn aufzusetzen. Falls das erste zugleich das letzte Mal sein sollte, dass ich ihn auf dem Rücken trage.
Die Reha begann damit, Unterkünfte für den Jakobsweg zu buchen und endete damit, diese zu stornieren. Enttäuscht und noch lange nicht geheilt trete ich die Heimreise an. Doch ich habe der Therapeutin auch von unserer Idee vom Auswandern erzählt. Sie hat mich darin bestärkt, zugleich aber auch Bedenken geäußert. Ich habe es aufgrund meiner Panikattacken nicht geschafft, gemeinsam mit den anderen Patienten im Speisesaal zu essen und möchte eben mal so auswandern?
Doch der Gedanke hat sich in mir festgesetzt.
Zu Hause angekommen muss Marcel mich erstmal wieder aufbauen. Mein Traum vom Jakobsweg, den ich seit Jahren vorhabe zu gehen, ist geplatzt. Meine Zielcollage im Flur, die von der Muschel dominiert wird, verhöhnt mich. Ich zeichne ein Coronavirus dazu. Ich bin jetzt arbeitslos und beziehe ALG1. Meinen Job hatte ich auf April gekündigt also habe ich viel Zeit dazu, nachzudenken und fälle die Entschlüsse, die ich auf dem Jakobsweg hätte fällen wollen nun zu Hause. Am Ende bleibt ein neuer Anfang in Norwegen. Wäre nur noch die Frage zu klären, wann. Dieser Frage ungeachtet beginnen wir nun, zu lernen. Die Sprache, die Gepflogenheiten. Wie sie so sind, die Norweger. Lernen, was in Büchern steht. Lesen unzählige davon. Jedes Buch, das uns Norwegen beschreibt wird verschlungen. Selbst von Marcel, der eigentlich nie liest.
Wir fangen damit an, uns abzufinden. Mit dem Gedanken bald weg zu sein. Wir fangen damit an, uns vorzufreuen. Auf die Fjorde und die Welt hinter dem Meer. Und wir erinnern uns daran, dass zu viele ABER oft zu einem NIE werden und beschließen, ein Datum für die Auswanderung festzulegen. Im Frühjahr nächsten Jahres soll es so weit sein. Studieren, das kann ich auch noch in Norwegen.
Wir nehmen die Auswanderung ernst. Aber dann doch nicht so ganz denn ein Jahr ist so weit entfernt.
Juni 2020
Mittlerweile wandeln sich meine Verluste in Chancen und ich stolpere über einen Hilferuf in Facebook. Dringend Helfer gesucht. Urlaub gegen Hand. 5 Stunden Arbeit am Tag gegen Kost und Logie. 28 Huskys im Norden von Norwegen. Aufgrund der mittlerweile prekären Situation, ausgelöst durch pandemiebedingt ausbleibende Touristen und Helfer, muss der Besitzer der Farm, Uwe, für unbestimmte Zeit nach Deutschland zurück in seinen alten Beruf um Geld für die Farm zu verdienen. Klingt erstmal ganz harmlos. Ich telefoniere mit Uwe, erzähle ich ein bisschen von mir. Unter anderem auch von meinen Panikattacken. Ich solle mir gut überlegen, ob ich mit den Hunden klar käme. Angst witterten diese sofort und der Zwinger sei der falsche Ort für Angst. Tendenziell könne er es sich mit mir aber gut vorstellen.
Ich habe genug davon, zu Hause zu sitzen. Die nächste Lektion, die ich mir für den Jakobsweg vorgenommen hatte, ruft. Mut.
Ich willige ein, für sechs Wochen auf die Farm zu kommen, buche einen Flug und sitze drei Wochen später im Flugzeug Richtung Norden. Meine erste Reise ganz allein. Am Flughafen geht es mir so schlecht wie lange nicht mehr und ich klammere mich ängstlich an Marcel. Doch mein Gepäck ist leider schon aufgegeben, ich habe also keine Wahl mehr.
September/Oktober 2020
Ich verlängere die Zeit auf der Farm für eine Woche. Ende September, Anfang Oktober hat Marcel drei Wochen frei und wir wollten uns das Land, dass ich die letzten beiden Monate alleine erkunden durfte und das unsere neue Heimat werden sollte, gemeinsam anschauen. Ich flog für vier Tage zurück nach Deutschland um dann mit Marcel und Vridolin wieder zurück nach Norwegen zu reisen. Auch hier kommt uns die Pandemie in die Queere. Die Grenzen sind nur noch für Personen mit Arbeitsvertrag geöffnet. Mein Arbeitsvertrag mit der Huskyfarm gilt bis Dezember und Uwe erklärt sich dazu bereit für Marcel auch einen Arbeitsvertrag aufzusetzen. Außerdem ist man, im Land angekommen, für zehn Tage quarantänepflichtig.
Unser ursprünglicher Plan sah eigentlich vor, die erste Woche bei K. und ihrer Familie zu verbringen und dann langsam wieder in Richtung Oslo zu fahren. Dorthin, wo der Wind uns trägt. Dieser trägt uns jetzt gezwungenermaßen für zehn Tage zurück auf die Huskyfarm in Quarantäne. Dieses Mal nicht zum Arbeiten sondern zum Frei Haben und Urlaub machen. Mit schlechtem Gewissen im Hintergrund, da Jiska bei meiner Abreise allein auf der Farm zurück bleibt. Dieser Urlaub festigte unseren Entschluss auszuwandern auf beträchtliche Weise.
Dezember 2020
Das Jahr neigt sich dem Ende zu und das neue Jahr wird spannend werden. Ich beginne trotzdem einen neuen Job, da Covid alles in Ungewissheit getaucht und unsere Pläne verzerrt hat. Das erste Mal in meinem Leben als Krankenschwester fühle ich mich wohl in einem Job. Ausgerechnet jetzt da dieser zeitlich begrenzt zu sein scheint. Mein Arbeitgeber weiß von meinen Plänen und mein Vertrag ist auf Ende April befristet.
Unser letzter Winter in Deutschland schenkt uns jede Menge Schnee zur Vorbereitung und ein wunderschönes Weihnachtsfest.
Silvester kommt und 2020 geht. 2021 beginnt, das Jahr der großen Veränderung.


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Mein Platz
Januar 3, 2022
2247 km
Juni 23, 2021
Ein Kommentar
Frank Brück
Liebe Janine,
sehr schön geschrieben. Man fühlt sich richtig neben Dir als ob man dabei wäre.
Weiter so!
Einfach super!