dazwischen

März 2022

Der Kauf unseres Wohnwagens

oder: Der Geschmack von Einsamkeit

Die Einsamkeit im Tal des Dovrefjells schmeckt nach Aquavit. Die Kulisse der Einsamkeit ist ein verlassener Campingplatz, Dauercamper, die andauernd verschwunden sind.

Wir haben soeben Bekanntschaft mit Volker gemacht. Volker wohnt auf einem Campingplatz der in jedem Grashalm, dem der Winter die Lebenskraft entzogen hat, die Trostlosigkeit speichert. Volker lebt in einer der Gästewohnungen, seit 8 Jahren. Seine Falten und die Altersflecken auf seiner Nase erzählen die Geschichte eines Menschen, der sich mit der Einsamkeit angefreundet hat, der gerne in ihr zu wohnen scheint. Er begrüßt uns mit einem norwegisch, dass so von deutsch durchflochten ist, dass wir nach dem ersten Satz wissen, dass wir es mit einem Gleichgesinnten zu tun haben. Er versucht noch die Tarnung aufrecht zu erhalten, das Gespräch gleitet so jedoch nur stockend vor sich hin und taumelt über Sprachbarrieren unter Landsleuten. Nachdem wir uns als Ausländer enttarnt haben, erzählen wir ihm kurz die Geschehnisse des heutigen Abends. Wir haben einen Wohnwagen gekauft, vor zehn Minuten. Es ist spät und windig, wir wollen erst am nächsten Morgen weiterfahren. Darum würden wir gerne für eine Nacht hier stehen bleiben um den Wohnwagen vor der Weiterfahrt besser kennen lernen zu können. Seine Schwächen, seine Stärken, seine Potentiale, seine Geschichte, seine Gerüche, seine Seele.

Er fragt nach dem Preis, den wir für ihn gezahlt haben, wir fragen nach dem Preis für die Nacht.
Ich kann bei ihm schlecht einschätzen, was er ernst meint und was nicht. Sein Humor ist trocken, spiegelt sich in der kargen Landschaft wider. Ironie die sich gut tarnt. Er meint, wir dürften den Wohnwagen eigentlich gar nicht fahren, für Wägen mit zwei Achsen bräuchte man einen LKW-Führerschein. Dass das zum Glück nicht stimmt erklärt uns kurze Zeit später Google. Wir erhalten auffallend viele Fehlinformationen von Deutschen. Vermeintliche Informationen scheinen immer deutsch zu sein. Und natürlich auch immer wahr.
Die Frage nach dem Preis für den Stellplatz hat sich immer noch nicht geklärt, das Gespräch ruckelt von einem Thema zum nächsten und manche Information scheinen in der Endlosschleife der Wiederholung gefangen. Er wohne seit 14 Jahren in Norwegen, arbeite als Flaschner, habe einen Schweißerschein und sei dadurch Gold wert. Kompetenz suche man auch in seinem Handwerk vergebens. Inkompetenz hingegen, gemessen an der Messlatte der deutschen Perfektion, scheint zu den Eigenschaften der Norweger zu gehören, eine norwegische Tugend zu sein.
Er erzählt uns, dass er Familie in Deutschland habe, einen Hof in Ostdeutschland, kurz vor der Rente stehe. Vier Mal setzt er dazu an, uns von den Schwierigkeiten beim Beantragen der Rente zu erzählen. Mit jedem Schluck Aquavit, und es sind viele Schlucke, schleichen sich immer mehr norwegische Vokabeln in seinen Wortschatz, seine Zunge denkt mittlerweile auf Norwegisch, seine deutsche Identität teilt sich ihren Platz mit der norwegischen. Im Winter kämen nicht viele Deutsche hier vorbei. Er leide ab und zu unter dem Gefühl der Isolation, dem man als Ausländer immer unterworfen sei. Er meint, als Ausländer sei man hier immer der Fremde. Immer derjenige, der nicht mit einbezogen würde, der ohne Freunde lebe. Der einzige Freund der Schnaps am Abend.
Das Leben als Ausländer, als Fremder. Plötzlich kann ich mitfühlen. Mit denen, die ohne Vorbereitung, ohne nur ein Wort der fremden Sprache je gehört zu haben, ihre Heimat fluchtartig verlassen müssen. Ankommen in der Fremde, die Heimat nur noch eine Erinnerung, zerbombt vom Feind, unbewohnbar durch Armut oder Hunger. Die Fremde zu überwinden ist mein Anspruch an mich selbst. Ich will kein Ausländer bleiben, sondern Mitglied der Gesellschaft sein.
Dort stehen wir, in der Kälte, vor unserem neuen Wohnwagen. Unser Gesprächspartner Volker, ein ostdeutscher Auswanderer, der sich in die norwegische Natur, das Skifahren, das Zelten, die Einsamkeit und den Schnaps verliebt hat. Seine Einsamkeit ist zum Alleinsein geworden. 14 Jahre seines 62 – jährigen Lebens hat er in der Fremde verbracht. Man sieht ihm sein Alter trotz seines Alkoholkonsums nicht an, er wirkt jünger. Nach zwei Stunden in der Kälte betreten wir zum ersten Mal seit der Besichtigung kurz vor dem Kauf unseren Wohnwagen, zu müde und zu hungrig, um ihn in uns aufnehmen zu können. Der Wind ruckelt an uns als wir versuchen zu schlafen. Gefühle hat er noch nicht zu mir getragen. Vorfreude, Euphorie, Tatendrang. Darauf muss ich noch bis zum nächsten Morgen warten. Meine Gefühle sind Sekundengefühle, die Matratze ist hart, der Boden klebrig, der Kühlschrank sollte nur mit Atemschutzmaske geöffnet werden und das Badezimmer ist mit abgebrochenen Kunstnägeln, Wimpern und rotem Nagellack, der wie Blut aussieht, verschmiert. Doch im Licht des nächsten Tages sieht alles vielleicht ganz anders aus. Wir wachen früh auf und fahren los, bevor Volker seinen Rausch ausgeschlafen hat. Wir stellen ihm ein Bier auf die Veranda, hinterlassen eine Nachricht: Vielen Dank für die Übernachtung, die Gespräche und viel Lebensfreude in der Rente.
Die Nacht auf dem Campingplatz war am Ende übrigens umsonst und mit nichts zu bezahlen. 

Wohnwagen vor der Renovierung

Wohnwagen nach der Renovierung

2 Kommentare

  • Frank Brück

    Meine liebe Janine,
    es war mir eine Freude, nach so langer Zeit wieder etwas von Dir zu lesen.

    Eine super, einfühlsame Geschichte vom wahrem
    Leben. Weiter so! Ich warte gespannt auf die nächste
    Geschichte.

    Und die Bilder, super!
    Ihr habt ja ein Wunder geschafft. Aus einem hässlichem Etwas einen wunderschönen Wohnraum geschaffen. Da kann man sich bestimmt wohl fühlen.

    Super Leistung.

    Ich wünsche euch noch viele schöne Momente in dem neuen Zuhause.

    Dein Papa

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