vom Wandern
Ich sitze am Meer und schreibe über das Wandern. Die Wellen wandern mir entgegen, die Flut kommt. Die Möwen mir gegenüber machen eine Pause vom andauernden Wanderleben und entspannen auf einer Felseninsel, die nur sie erreichen können, umgeben vom Wasser, das in steter Bewegung ist. Ich betreibe Stillstand am anderen Ufer und schreibe über das Wandern.
Über das Unterwegs-sein und über die Sehnsucht danach.
Die norwegische Natur in Worten einzufangen ist schwierig und man braucht tausende, um ihr gerecht zu werden. Man könnte Lexika mit ihr füllen, man könnte unzählige Gedichte schreiben, tausend aneinandergereimte Worte, man könnte Epen über sie schreiben, ein Epos epochaler als das nächste. Doch Worte werden ihr nicht gerecht. Man muss sie fühlen, riechen, schmecken und sehen. Sie genießen. Wortlos aufsaugen und nachspüren, was sie in einem auslöst. Die Worte durch Emotionen ersetzen. Die Natur mit Gefühlen beschreiben. Das Wandern in Norwegen kann einem den Atem rauben, auf facettenreiche Art und Weise.
Menschen wie mir, deren Lunge geizig ist, wird der Atem schnell durch den steilen und felsigen Aufstieg geraubt. Doch die Atempausen die man dadurch machen muss zwingen einen dazu, kurz stehen zu bleiben und sich umzudrehen. Mal nach links und rechts zu schauen und manche Dinge zu sehen, die vielleicht sonst übersehen worden wären.
Wie der See mit den Seerosen zur Linken, die Wolken, die sich über die Sonne schieben zur Rechten, die Sicht auf den Fjord, der hinter einem liegt, oder die Pilze am Wegesrand.
Der Wind, der auf den Berggipfeln weht, schubst die Luft, die man eigentlich soeben einatmen wollte, grob zur Seite und die Lunge fühlt sich erneut ihrem Atem beraubt. Die Aussicht nimmt einem dann das letzte Bisschen Luft, das noch übrig war. Atemlos und staunend steht man da.
Letztendlich ist es die Ruhe, die einen daran erinnert zu atmen. Die Stille, in der man jeden Atemzug hört. Das eigene Atmen, das stärker ist als der Wind und stärker als das Staunen.
Der Weg nach oben kann dich Kraft kosten, der Rucksack, den du schulterst ist schwer und zieht dich oft zurück, zwingt dich zu Pausen. Der Weg nach oben kann bereichernd sein, kann sich leicht anfühlen, wenn du ihn ohne Gepäck auf dich nimmst. Doch wer von uns geht schon ohne Gepäck?
Die Natur kann dir unendlich viel Energie geben, die sie dir mit einer Wolke, einem Windstoß, einem Regentropfen wieder nehmen kann. Kann dich verleiten mit ihrem Wispern, kann dich locken um dich dann wieder fallen zu lassen. Kann dir aber auch ein Heim geben.
Die Natur ist in Norwegen zu Hause.
Zu Hause für die Vögel, die Pilze und die Bäume, die so zahlreich in ihr leben und die ihre Lungen sind. Zu Hause für die Elche, die Rehe und die Fische, die leider oftmals ihren Atem verlieren denn bald werden die Fjorde leer gefischt und die Wälder leer gejagt sein. Unter Wasser atmen, das kann nicht jeder.
Die Natur hier raubt einem aber auch oft den Atem auf eine andere, beängstigende Weise. So weitläufig, so groß, dass man sich in ihr verliert. Man nur ein kleiner Punkt ist auf einem großen Felsen, den es nicht kümmert, ob du da bist oder nicht. Die Weite auf den Berggipfeln, die einen verschluckt, sobald der Hochnebel kommt. Die einem die Luft nimmt, wenn man um sich schaut und weiß, man ist allein.
Der leichte Nieselregen, den man kaum spürt, der aber in die Kleidung kriecht und das Bergab zu einer Rutschbahn macht. Jeder Stein, der zur Stolperfalle werden kann. Dem Abgrund entgegen. Der Regen, der zur Gefahr wird. Ein falscher Schritt und man fällt ins Nichts. Eine Lawine, die dich unter sich begräbt, eine Lawine aus Ruhe und Atemlosigkeit und Schnee. Auch das nimmt den Lungen die Luft. Die Gewalt, die die Natur innehat und die einem zeigt, man ist ihr schutzlos ausgeliefert denn sie ist stärker als wir und wird es immer sein.
Ein zu Hause ist sie noch lange nicht für mich. Mein Wandern sollte 2019 für 2600 Kilometer nach Santiago de Compostela gehen doch ein Virus, der einem den Atem nimmt, hat diesen Weg beendet bevor ich einen Schritt auf ihm gehen durfte. Stattdessen hat mich mein Wandern jetzt 2600 km weiter nördlich geführt. In ein Land, dass sich fremd und vertraut anfühlt, beides auf beängstigende Weise.
Anstatt nach Santiago zu wandern bin ich aus-gewandert, jedoch bisher ohne angekommen zu sein. Die Menschen um mich herum sind ihrer Natur sehr ähnlich. Sie machen einen fröhlichen, offenen, weiten Eindruck und sind bei genauerer Betrachtung doch oft wie der Fels, auf dem man steht. Kalt, unnahbar und abweisend.
Abweisung mit einem Lächeln im Gesicht schmeckt bitter und salzig, wie das Meer über dem die Sonne lacht. Ohne dass sie die Macht dazu hätte, zu wärmen. Der Wind ist zu kalt und kommt in jede Lungenalveole, in jede Ritze deines Verstandes.
Ich habe Angst vor dem Winter, wenn sich die Natur gegen uns wendet. Der Wind versucht, uns aus seinem Land zu vertreiben und die Dunkelheit uns verschlingt. Doch auch hier wird sie Gnade vor Recht walten lassen und uns vielleicht ab und zu ein Leuchten schenken. Weiß, rein und kalt oder schnell, grün und nur einen Augenblick lang.Beides soll uns Hoffnung schenken in der Zeit des Wanderns.
Denn Hoffnung findet man überall, wenn man nur nach ihr sucht. Im weichen und warmen Fell meiner Katzen, im Lächeln eines geliebten Menschen, unter der warmen Bettdecke oder der untergehenden Sonne.
Wandern kostet Kraft, kostet Energie und man wird erst belohnt, wenn man angekommen ist. Ausruhen und durchatmen kann. Wenn man aber auf dem Gipfel im Nebel versinkt dann muss man erkennen, wann es Zeit ist, umzukehren. Oder man geht im Nebel verloren.



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Ein Kommentar
Anonym
Liebe Janine,
Einfach schön und gleichzeitig traurig!